Was ist „Naruto-Daiku“?

Am 1. Juni 1918 wurde die Neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven im Kriegsgefangenenlager Bando, heute in Naruto, Tokushima gelegen, zum ersten Mal in kompletter Form in Asien von den deutschen Insassen des Lagers aufgeführt.

Hintergrund dieses historischen Ereignisses sind dabei die humane Behandlung der Kriegsgefangenen im Lager Bando sowie der freundschaftliche Kontakt und Austausch zwischen den Insassen und der lokalen Bevölkerung, sozusagen ganz im Geiste der Nächstenliebe, wie ihn die „Neunte“ in sich trägt.

Dieser Geist wird von den Bürgern Narutos auch heute noch von Generation zu Generation weitergegeben, so dass das Leben in der Stadt von zahlreichen, darauf bezogenen Veranstaltungen und Traditionen geprägt ist. Allen voran muss hier natürlich die große Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens jedes Jahr zum ersten Juni-Sonntag genannt werden. Weiterhin sind auch die Städtepartnerschaft zum niedersächsischen Lüneburg oder das Kosmeenfest ein integraler Bestandteil.

Die Erstaufführung der „Neunten“ in Asien; ein Band der Freundschaft, das inmitten der Widrigkeiten des 1. Weltkriegs unüberwindbar erscheinende Grenzen überbrückt und Menschen verbindet; das von den Kriegsgefangenen hinterlassene Erbe der „Neunten“ und dessen Erhalt und Weitergabe durch die Bürger Narutos; all dies ist der Ausgangspunkt für „Naruto-Daiku“, der ganz eigenen „Neunten von Naruto“, wie sie sonst nirgends auf der Welt zu finden ist. Ein Erbe, auf das die Stadt Naruto und ihre Bewohner Stolz sein können.


Warum eigentlich die „Neunte“?

33. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens
 ▲33. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens

Die „Neunte“ und deren Aufführung sind, auf ganz Japan betrachtet, insbesondere ein für das Jahresende typisches Ereignis. Eine Theorie für den Ursprung dieser Tradition führt ins Jahr 1943 zurück, als in der Konzerthalle der Tokyo Music School (Tokyo Ongaku Gakko; heute: Hochschule der Künste Tokyo) ein Konzert zur Verabschiedung für vom japanischen Militär eingezogene Studenten stattfand.

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurden nämlich auch zunehmend Studenten der Juristik und der Geisteswissenschaften vom Militär eingezogen, wenn sie das 20. Lebensjahr erreicht hatten. Die für Anfang Dezember anberaumte Einberufung unmittelbar bevorstehend, soll, so heißt es, zum Konzertabend der vorgezogenen Abschlussfeier der Studenten der vierte Satz von Beethovens Neunter Sinfonie aufgeführt worden sein.

1945 fand dieser Krieg sein Ende und viele der eingezogenen jungen Männer kehrten nie wieder nach Hause zurück. Daher beschlossenen die überlebenden Soldaten, die Neunte Sinfonie in der gleichen Halle erneut aufzuführen, womit ein Ursprung der Tradition der „Neunten“ zum Jahresende möglicherweise auch in diesem Requiem für die auf dem Schlachtfeld verstorbenen Kommilitonen gesehen werden kann.

In der Nachkriegszeit und den Jahren des Wiederaufbaus begannen einige Orchestergruppen später, die „Neunte“ aufzuführen, um sich ein kleines Jahresentgelt dazuzuverdienen, da dieses Stück stets viele Besucher anzog. Im Laufe der Zeit wurden diese Konzerte dann zu einem jährlichen Brauch.

Doch ist es bekanntermaßen die Aufführung der „Neunten“ durch die Insassen des Kriegsgefangenenlagers Bando, die als erste Aufführung in ganz Asien gilt. Deren Datum, der 1. Juni, gilt in Naruto als „Tag der Neunten“ und der erste Juni-Sonntag ist mittlerweile traditionell auch der Tag der Aufführung des großen Konzertes der „Neunten“ von Naruto.

Aber warum gab es im Kriegsgefangenenlager Bando, im Unterschied zu anderen Lagern jener Zeit, überhaupt solch ein reges Lagerleben und solch einen ungewöhnlichen Kontakt mit der lokalen Bevölkerung?

Der damalige Vorsitzende der Lagerleitung, Oberst Toyohisa Matsue, wurde in der Region Aizu geboren, die während des Bürgerkriegs um die sogenannte „Meiji-Restauration“ Ende der 1860er Jahre nicht den japanischen Kaiser unterstützte und letztlich auf der Seite der Verlierer stand. Häufig soll er die Bedeutung von Güte und Barmherzigkeit eines Kriegers (jp.: bushi no nasake) betont haben. Dies zeigt sich auch in der von ihm kommandierten Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen, denen er als Verlierer und Unterlegene eben genau diese Sympathie entgegenbrachte. Doch meinte Sympathie für ihn nicht einfach nur Mitleid, sondern vielmehr Respekt gegenüber den Gefangenen, die sozusagen als tapfere Helden für ihr Heimatland gekämpft hatten. Seine Milde und Großherzigkeit wird von vielen, die ihn kannten, im Einklang gelobt. Seine Herangehensweise in der Lagerverwaltung fand bei den deutschen Kriegsgefangenen Beachtung, da er ihnen als Menschen vertraute, und auch aus heutiger Perspektive lassen sich diese Grundsätze als demokratisch und human beschreiben.

Matsues Einstellung beeinflusste möglicherweise auch die lokale Bevölkerung, da diese die deutschen Kriegsgefangenen nach einiger Zeit mit der Anrede „Herr Deutscher“ begrüßten und eine teilweise fast familiäre Atmosphäre zwischen beiden Seiten existierte. Nicht ganz unwichtig war dabei sicherlich auch, dass Bando der Ausgangspunkt der Pilgerreise von Shikoku ist, wo seit alters her eine Tradition der Offenheit und Gastfreundschaft gegenüber den aus der Ferne angereisten Pilgern bestand. Diese wurde auch den ebenfalls aus der Fremde stammenden deutschen Kriegsgefangenen entgegen gebracht.

So wie Beethoven mit den Worten Schillers versuchte, die Liebe zur Menschheit auszudrücken, so steht „Naruto-Daiku“ - die ganz eigene Neunte von Naruto - als Sinfonie für den alle Grenzen überschreitenden Friedenswillen in einer Welt, in der noch immer nicht alles Leid überwunden ist.


Manifest über die Liebe zur Neunten

Manifest

An alle Liebhaber der „Neunten“ in unserem Land!

Seit vielen Jahren singen wir nun schon alle die „Neunte“, jeder für sich, in seiner Stadt, seiner Gemeinde, aus ganz spezifisch-lokalen Traditionen und Geschichten heraus entsprungen.

Der Ursprung der „Neunten“ in unserem Land findet sich in einer Aufführung, die am 1. Juni 1918 in der Stadt Naruto (Tokushima) von deutschen Kriegsgefangenen organisiert wurde.

Diese an die Stadt Naruto vererbte „Neunte“ wurde von deren Bürgern mit Anstrengung und Eifer wieder zu neuem Leben erweckt. Als gemeinschaftliches Projekt vieler Gesangsgruppen der „Neunten“ aus ganz Japan gründete sich 1989 auch der „Verein zum Singen der Neunten in ganz Japan“, deren Begeisterung für die „Neunte“ noch immer eine starke Antriebskraft ist.

Die von uns so geliebte „Neunte“ handelt mit ihrer musikalischen Komplexität von der Liebe für die Menschen, über Freundschaft und Frieden. Die Worte Friedrich Schillers sind, in einer von noch immer zahlreichen Wirren geplagten, globalen Gesellschaft, in dieser unser Welt Worte des Ansporns und der Ermutigung, den eigenen Träumen und Wünschen zu folgen; kurzum, sie sind eine Hymne auf die Menschlichkeit.

Für das uns nun bevorstehende 21. Jahrhundert wünschen wir uns, den Kreis derjenigen zu erweitern, die mit uns gemeinsam die unbestreitbar wunderschönste Sinfonie Beethovens singen.

Liebe Liebhaber der „Neunten“ in unserem Land, lasst sie uns gemeinsam singen, um die in der „Neunten“ enthaltene Botschaft von Frieden, Nächsten- und Menschenliebe in die Welt hinaus zu tragen.

3. Juni, 2001


Der mit dem ersten Weltkrieg beginnende Kontakt mit Deutschland in Naruto

1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Im Zuge dessen erklärt das japanische Kaiserreich in Folge eines Bündnis mit der britischen Krone dem Kaiserreich Deutschland den Krieg und erobert dessen von rund 5.000 Soldaten verteidigte Kolonie Tsingtau (heute: Qingdao) in China.

Von diesen wurden rund 4.700 Soldaten als Kriegsgefangene nach Japan verschifft, wo sie in zwölf Lager in ganz Japan untergebracht wurden. Später wurden diese zu sechs größeren Lagern zusammengelegt, wodurch die Insassen der Lager Matsuyama (Präfektur Ehime), Marugame (Präfektur Kagawa) und Tokushima (Präfektur Tokushima) auf Shikoku in einem neu erichteten Lager zusammen kamen, dessen Name Bando (heute: Stadt Naruto, Präfektur Tokushima) lautete.

Das plötzliche Auftauchen der im Jahr 1917 verlegten, rund 1.000 Kriegsgefangenen aus dem Feindesland Deutschland in Bando sorgte zunächst für einige Überraschung bei der lokalen Bevölkerung.

In Bando existiert jedoch eine tief verwurzelte Tradition der Gastfreundschaft und Offenheit gegenüber Fremden, die auf den Pilgerweg von Shikoku zurückzuführen ist, der in Bando seinen Anfang nimmt. Daher begannen die Menschen von Bando schon nach kurzer Zeit, den „Herren Deutschen“ gegenüber freundlich zu sein.

Auch auf deutscher Seite war man offen und nahm Kontakt mit den um das Lager herum wohnenden Menschen auf, so dass sich im Laufe der Zeit ein durchaus bemerkenswerter Austausch zwischen beiden Seiten in Zeiten des Krieges ergab. Beispiele dafür sind ein von den Gefangenen geplanter und mit Hilfe japanischer Handwerker errichteter Stall oder der junge Mann, der in der Lagerbäckerei das Bäckerhandwerk erlernte, die Sport- und Musikveranstaltungen oder die das Leben in Bando vereinfachenden Flussbrücken, die durch die deutschen Soldaten angelegt wurden.

Panorama-Ansicht des Lagers Bando    Eingangstor des Lagers Bando
 ▲Panorama-Ansicht des Lagers Bando   ▲Eingangstor des Lagers Bando


Toyohisa Matsue - Lagerleiter in Bando

„Wo sonst in der Welt hat es je ein Gefangenenlager gegeben wie in Bando? Wo sonst in der Welt hat es je einen Lagerkommandanten gegeben wie Matsue? “ Diese Worte werden Paul Kley zugeschrieben, der nicht nur in Bando als Kriegsgefangener inhaftiert war, sondern auch während des Zweiten Weltkriegs in Sibirien.

Geht man den Fragen nach, warum vielen Kriegsgefangenen das Lager Bando, häufig auch als Musterlager bezeichnet, in so positiver Erinnerung blieb, während es in anderen Lagern auf der Welt so schlechte Verhältnisse gab, oder warum die Insassen Bandos solche Freiheiten im Kontakt mit der lokalen Bevölkerung hatten, dann muss man unweigerlich über den Leiter des Lagers, Toyohisa Matsue, und dessen Herangehensweise an die Leitung sprechen.

Der Vater Matsues stammte aus der Region Aizu und stand nach dem Bürgerkrieg Ende der 1860er Jahre auf der Verliererseite, so dass Matsue selbst die Erfahrung machte, als Feind des restaurierten Hofes zu gelten und eine schwierige Kindheit verbrachte. Doch verstand er dadurch, was es bedeutete, der Schwächere und Unterlegene zu sein.

Dieses in Matsue erwachsene Verständnis brachte er auch den deutschen Kriegsgefangenen entgegen, die aus seiner Sicht nur für ihr Heimatland gekämpft hatten, so wie es alle Soldaten machten. Matsue setzte sich daher dafür ein, die Unterbringungssituation in seinem Lager zu verbessern und kämpfte dabei auch gegen seine Vorgesetzten gegen vielerlei Kritik und Vorwürfe an. Letztlich folgte er seinen aufrichtigen Überzeugungen über die Verbesserungen trotz aller Widrigkeiten bis zum Zeitpunkt der Schließung des Lagers, was ihm den Respekt der Insassen und der Lagerverwaltung einbrachte.

Lagerleiter Toyohisa Matsue  Oberst Matsue mit seiner Familie
 ▲Lagerleiter Toyohisa Matsue     ▲Oberst Matsue mit seiner Familie


Aktivitäten der deutschen Kriegsgefangenen im Musterlager Bando

Druckwesen

In der Auseinandersetzung mit dem Gefangenenlager Bando ist eine Sache unerlässlich: die von den Insassen selbst publizierte Lagerzeitung „Die Baracke“, die bis auf die letzten Wochen vor der Heimkehr jeden Sonntag mit in der Regel 24 Seiten für gut zwei Jahre herausgegeben wurde.

Inhaltlich beschäftigte sich „Die Baracke“ mit den unterschiedlichsten Themen: vom Kriegsgeschehen in Europa über Veranstaltungen und Geschehnnisse inner- und außerhalb des Lagers bis zu Kritiken der Theater- und Musikaufführungen. Neben der Lagerzeitung existieren auch eine Reihe weiterer Druckerzeugnisse, die durch ihre vielfarbige Gestaltung als Lithografien auch heute noch gut erhalten sind. Hierzu zählen beispielsweise die Programme der zahlreichen Veranstaltungen im Lager oder weitere Buchdrucke, die von der Präfektur Tokushima als wertvolle Kulturmaterialien anerkannt sind.

Einblick in die Druckerei  Farbdrucke
 ▲Einblick in die Druckerei    ▲Farbdrucke


Handel und Geschäfte

Budenviertel „Tapatau“

Der Name dieses Budenviertels basierte auf einem gleichnamigen Geschäftsviertel in der deutschen Kolonie Tsingtau. Insgesamt 80 Buden wurden dort von den Insassen Bandos selbst errichtet, mit Handwerksläden wie einer Tischlerei, Schneiderei, Schmiede, Fotostudio, Buchbinderei, Klempnerei oder einer Werkstatt sowie kleinen Läden, die Getränke und Süßigkeiten verkauften, Instrumente reparierten und Musikunterricht anboten. Nicht direkt in diesem Viertel, aber an anderer Stelle existierten darüber hinaus noch die Lagerdruckerei, die Lagerschlachterei, die Lagerbäckerei und ein „Restaurant“.

Budenviertel „Tapatau“  Warteschlange vor der Lagerschlachterei
 ▲Budenviertel „Tapatau“        ▲Warteschlange vor der Lagerschlachterei


Kegelbahn

Gleich östlich des Budenviertels schloss sich eine Kegelbahn mitsamt Küche an. Die Kegelbahn selbst stammte aus dem Lager Matsuyama und wurde von den dort internierten Kriegsgefangenen mit nach Bando gebracht. Von halb acht morgens bis neun Uhr abends fanden sich hier wohl stets Kegelfreunde ein. Getreu dem Motto „einer für alle, alle für einen“ gingen Teile der hier erwirtschafteten Einnahmen auch an die von den Insassen selbst ins Leben gerufenen Krankenkasse.

Einblick in die Kegelbahn  Heute noch erhaltene Kegelkugeln
 ▲Einblick in die Kegelbahn       ▲Heute noch erhaltene Kegelkugeln


Konditorei „Geba“

Die „Geba“, kurz für „Gefangenenlager Bando“, verbrauchte in gut zweieinhalb Jahren Betrieb circa 36.000 kg Mehl und über 130.000 Eier. An Feiertagen wurden die Konditoreiwaren der „Geba“ wohl auch an in China und Japan lebende Deutsche als Geschenke versandt.

Konditorei „Geba“ (1)  Konditorei „Geba“ (2)
 ▲Konditorei „Geba“ (1)         ▲Konditorei „Geba“ (2)


Sport

Relativ früh nach Eröffnung des Lagers Bando verhandelte die Verwaltung unter Oberst Matsue mit der lokalen Bevölkerung über die Möglichkeit der Pachtung von weiterem Land. In Folge dessen kamen zu den rund 57.000㎡ Fläche des Lagers noch etwa 34.000㎡ Land vor dem Lager, das als Garten- und Sportanlage genutzt werden sollte. Die sportverliebten Kriegsgefangenen gingen sogleich dazu über, einen Sportausschuss einzusetzen, und errichteten beispielsweise mehrere Tennisplätze, einen Fussball- und einen Hockeyplatz. Obwohl der Zugang zu den Anlagen zeitlich begrenzt war, entwickelte sich schnell ein reges, sportliches Treiben, was sich unter anderem in zahlreichen Wettkämpfen oder Turnieren zeigte. Darüber hinaus übten sich einige Insassen auch in für das damalige Japan sehr ungewöhnlichen Sportarten wie dem Geräteturnen und der Gymnastik, weshalb auch einige Sportlehrer aus Grund- und Mittelstufenschulen sowie Schüler der damaligen Mittelstufenschule Muya (heute: Naruto Senior High School) den Gefangenen für eine Besichtigung der Übungen im Lager einen Besuch abstatten. Andererseits wurden einige Insassen auch von Schulen eingeladen, um eben diese Übungen vorzuführen.

Tennisplätze  Eine Gruppe Gefangener bei gymnastischen Übungen
 ▲Tennisplätze             ▲Eine Gruppe Gefangener bei gymnastischen Übungen


Mitunter organisierten die deutschen Kriegsgefangenen auch Ausflüge und Wanderungen, wo sie nah gelegene Berge wie den Berg Oasa bestiegen oder zwei Stunden bis zur Kushiki-Küste an der Seto-Inlandsee wanderten, die 12km entfernt lag. Insbesondere von Mai bis Oktober im Jahr 1919 gab es an die 30 Strandausflüge, wo die Gefangenen auch verstärkt in Kontakt mit den japanischen Anwohnern kamen und einigen Kindern wohl auch ein wenig Deutschunterricht gegeben haben.

Eindrücke des Kontaktes mit Japanern an der Kushiki-Küste
 ▲Eindrücke des Kontaktes mit Japanern an der Kushiki-Küste


Kultur

Ausstellung für Bildkunst & Handfertigkeit

Vom 8. bis 19. März 1918 eröffnete die von den Insassen Bandos selbst initierte „Ausstellung für Bildkunst & Handfertigkeit“ ihre Pforten, die im Tempel Ryozenji, dem Ausgangspunkt der Pilgerreise von Shikoku, sowie dem daneben gelegenen Gemeindehaus von Bando organisiert wurde.

In der Abteilung „Bildkunst“ wurden insgesamt 220 Werke an Ölgemälden, Aquarellen und Bildern ausgestellt. Die Abteilung „Handfertigkeit“ hingegen präsentierte knapp 250 Ausstellungsstücke an Modellen, Metall- und Holzarbeiten, Spielsachen und Musikinstrumenten.

Das Ganze wurde untermalt von musikalische Aufführungen der Orchester, Verkaufsständen mit Waren aus der Bäckerei, Schauständen mit Kraftproben oder Scheibenschießen, wodurch sich eine durchaus festliche Stimmung entwickelte. Die Organisatoren zählten an die 50.000 Besucher, die auch viele Ausstellungsstücke aufkauften oder nach deren Ausverkauf bei den Soldaten bestellten.

Tempel Ryozenji zur Zeit der Ausstellung   Konzert vor dem Eingangstor des Tempels
 ▲Tempel Ryozenji zur Zeit der Ausstellung   ▲Konzert vor dem Eingangstor des Tempels


Musik

Es existiert ein ganz besonderes Beispiel für die Relevanz, die die Musik im Lager Bando für sich beanspruchen konnte. Am 6. April erreichten die Insassen des Lagers Tokushima als Erste ihr neues Zuhause, doch für ihre Kameraden aus den beiden anderen Lagern Matsuyama und Marugame, die jeweils am 8. und 9. April eintrafen, spielten die ehemaligen Insassen des Lagers Tokushima den Marsch „Preußens Gloria“ zur Begrüßung.

Das Lager Bando verfügte über zwei komplette Orchester: das von Paul Engel angeführte Engel-Orchester und das Tokushima-Orchester, dem Hermann Hansen vorstand. Daneben sorgten noch mehrere Spiel- und Gesangsgruppen dafür, dass jede Woche mindestens ein Konzert abgehalten wurde und insgesamt 300 verschiedene Stücke im Lager gespielt wurden.

Engel-Orchester  Tokushima-Orchester mit Chor
 ▲Engel-Orchester            ▲Tokushima-Orchester mit Chor


1. Juni, 1918 - Tag der asiatischen Erstaufführung der „Neunten“

Es war der 1. Juni 1918, als Hermann Hansens Tokushima-Orchester gemeinsam mit einem Chor die Neunte Sinfonie Beethovens in kompletter Länge zum ersten Mal in Asien aufführte.

Da dieses Konzert aber innerhalb des Lagers stattfand, gab es keine japanischen Besucher bei dieser Erstaufführung. Bekannt ist jedoch, dass der in Japan später auch als „Fürst der Musik“ bekannte Fürst Yorisada Tokugawa, der von der alten Herrschaftsfamilie Tokugawa abstammte und in Japan bei der Popularisierung europäischer Musik mitwirkte, von den musikalischen Leistungen im Lager hörte. Bei einem Besuch konnt er auch einigen Aufführungen lauschen und war davon wohl tief beeindruckt.

Es ist bemerkenswert, dass diese universell für Frieden in der Welt und die Liebe zur Menschheit stehende „Neunte“ gerade zur Kriegszeit aufgeführt wurde und deren grenzüberschreitendes und völkerverbindendes Motto „alle Menschen werden Brüder“ letztlich durch die Kriegsgefangenen, die Lagerverwaltung und die einheimische Bevölkerung verkörpert wurde.

Konzertprogramm zur Aufführung der „Neunten“
 ▲Konzertprogramm zur Aufführung der „Neunten“


Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs näherte sich auch die Schließung des „Musterlagers“ Bando, die zum 1. April 1920 erfolgte. Der Abschied von den nun heimkehrenden deutschen Soldaten viel der einheimischen Bevölkerung nicht ganz leicht. Nach der Schließung des Geländes als Gefangenenlager blieben nur die Mannschaftsbaracken und der von den Deutschen angelegte Gedenkstein, den in der Gefangenenschaft verstorbenen Kameraden gewidmet, als Zeugen dieser Geschichte zurück.

Für eine Weile wurde der Gedenkstein von einer Jugendgruppe gepflegt, doch kam dies mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu einem abrupten Ende und in dessen Wirren geriet die Geschichte des deutsch-japanisches Kontaktes im Gefangenenlager Bando und die Erstaufführung der „Neunten“ in Vergessenheit.

Zeichnung über den Abschied vom Gefangenenlager
 ▲Zeichnung über den Abschied vom Gefangenenlager


Das Band der Freundschaft zwischen Naruto & Deutschland - wiederentdeckt von einer Frau

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten viele Menschen aus den japanischen Kolonien und dem Ausland in ihre Heimat zurück. Das Gelände des ehemaligen Lagers Bando diente dabei als temporäre Unterbringung für einen Teil dieser Menschen.

Unter diesen befand sich auch eine Frau mit dem Namen Harue Takahashi. Als sie eines Tages einmal wieder nach Brennholz in den Bergen suchte, fiel ihr ein vom Gebüsch verdeckter Stein auf, der mit ihr unbekannter Schrift verziert war. Vom Unkrauft befreit und mit Wasser abgespült, zeigten sich auf dem Stein einige Namen und Harue Takahashi hörte zum ersten Mal die Geschichte von den deutschen Kriegsgefangenen, die während des 1. Weltkriegs in Naruto inhaftiert waren. Da sie selbst in jungen Jahren ein Familiengrab auf der koreanischen Halbinsel zurücklassen musste, bedauerte sie die in der Kriegsgefangenschaft verstorbenen Soldaten, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten. Daher beschloss sie, den Gedenkstein zu pflegen und regelmäßig zu reinigen.

Harue Takahashi
 ▲Harue Takahashi


Wiederaufleben des Kontaktes

1948 kehrte Harues Ehemann, Toshiharu, aus siberischer Kriegsgefangenschaft zurück, weshalb nun beide gemeinsam mit Unterstützung weiterer Mitglieder ihrer Gemeinde die Pflege des Gedenksteins fortsetzten.

Dieses Bestreben wurde im Oktober 1960 auch von der lokalen Presse aufgegriffen. Davon beeindruckt, besuchten der damalige deutsche Botschafter und der damalige deutsche Generalkonsul in Kobe die Stadt Naruto, wodurch die Beziehungen zwischen Naruto und Deutschland letztlich wieder auflebten.

Kurze Zeit später erreichten die Stadt Naruto auch Briefe von den ehemaligen Insassen Bandos sowie Spenden und Dankesschriften. 1963 wurde vor dem Gedenkstein eine Seelenmesse abgehalten und im darauffolgenden Jahr erhielt Harue Takahashi den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

Diese Entwicklungen sorgten dafür, dass zahlreiche Sach- und finanzielle Spenden von den ehemaligen Kriegsgefangenen sowie deren Familien eingingen, die letztlich zur Gründung des (ersten) Deutschen Hauses der Stadt Naruto im Jahr 1972 führten, das mehr als 20 Jahre als Zentrum der deutsch-japanischen Freundschaft in Naruto fungierte.

Nicht vergessen sollte man auch, dass die Stadt Naruto im April 1974 eine Städtepartnerschaft mit dem niedersächsischen Lüneburg einging. Seitdem besuchen sich die Bürgerdelegationen beider Städte jedes Jahr in regelmäßiger Abwechslung.

Altes Deutsches Haus  Unterzeichnung der Städtepartnerschaft mit Lüneburg
 ▲Altes Deutsches Haus         ▲Unterzeichnung der Städtepartnerschaft mit Lüneburg


1. Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens durch die Bürger von Naruto

Zur Einweihung der großen Kulturhalle von Naruto im Jahr 1982 wurde die Neunte Sinfonie zum ersten Mal seit ihrer ersten Aufführung in Asien wieder in Naruto aufgeführt. Das Orchester wurde dabei von einem Bürgerchor mit 377 Mitgliedern begleitet, die dem „Verein zum Singen der Neunten“ angehörten.

Unter den Besuchern des Konzerts fanden sich auch der damalige Lüneburger Oberbürgermeister sowie die von ihm angeführte Freundschaftsdelegation. Die Veranstalter des Konzerts erreichte auch ein Brief mit Glückwünschen von Herbert von Karajan, dem langjährigen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker.

Erstes Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens
 ▲Erstes Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens


Errichtung des Neuen Deutschen Haus der Stadt Naruto

1993 errichtete die Stadt Naruto ein neues Deutsches Haus, um die angesammelten Materialien und Gegenstände mit Bezug zum Kriegsgefangenenlager Bando besser präsentieren zu können. Zur Einweihung wurde das „Deutsche Fest in Naruto“ organisiert, dessen Hauptprogrammpunkt das 13. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens auf dem neuen Platz vor dem Haus wurde. Unter den Teilnehmern des Chors fanden sich auch die 20 Teilnehmer der Lüneburger Freundschaftsdelegation unter Leitung des Oberbürgermeisters Mädge ein, die zu dem gleichzeitig stattfindenden 20. Jubiläum der Städtepartnerschaft nach Naruto reisten. Dem Gesang dieses alle Grenzen überbrückenden Chors lauschten rund 1.500 Zuhörer.

13. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens vor dem Deutschen Haus
 ▲13. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens vor dem Deutschen Haus


„Naruto-Daiku“ erobert die Welt

Seitdem wurde die „Neunte“ in vielfältiger Form in Naruto aufgeführt. Erwähnenswert sind hier sicherlich die Aufführung unter der Leitung des berühmten Dirigenten Seiji Ozawa im Jahr 1998 oder die im gleichen Jahr abgehaltene, an die Erstaufführung in Bando angelehnte Aufführung der „Neunten“ mit einem Orchester und Gesang nur von Männern.

Weitere berühmte Dirigenten waren Ken'ichiro Kobayashi (2000), Norichika Iimori (2006) und Tomomi Nishimoto (2008).

Diese Dirigenten sorgten dafür, dass die „Neunte“ in Naruto jedes Jahr zu einem großen Ereignis wurde, doch fand diese „Neunte“ von Naruto auch ihren Weg nach Übersee, zum Beispiel ins niedersächsische Lüneburg und Braunschweig sowie die ehemalige Heimat der deutschen Kriegsgefangenen von Bando, Tsingtau (heute: Qingdao), wo Mitglieder des Bürgerchors von Naruto die „Neunte“ auf deren „Heimkehrkonzerten“ sangen.

27. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens unter der Leitung von Tomomi Nishimoto  Tomomi Nishimoto
 ▲27. Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens unter der Leitung von Tomomi Nishimoto


Das erste „Heimkehrkonzert der Neunten“ wurde 2001 unter der Mitwirkung von 67 Mitgliedern der „Vereinigung zum Singen der Neunten“ der Stadt Naruto, 25 Mitgliedern der „Japanischen Vereingung zum Singen der Neunten“ sowie 20 Chormitgliedern aus Lüneburg im Theater der Stadt abgehalten. Neben der „Ode an die Freude“ erklangen auch japanische Stücke wie „Sakura Sakura“, „Kojo no Tsuki“ und „Iya no Konahiki Uta“. Zum Konzert wurden Nachkommen der ehemaligen Insassen von Bando einladen, von denen 52 Personen auch erschienen, um die Freundschaft zwischen Deutschland und Japan zu vertiefen.

Im darauffolgenden Jahr wurden der Dirigent Urs-Michael Theus sowie die Sopranistin Almuth Marianne Kroll nach Naruto eingeladen, um im Rahmen der deutsch-japanischen Freundschaft bei der Aufführung der „Neunten“ in Naruto mitzuwirken.

Der Chor stimmt japanische Lieder an
 ▲Der Chor stimmt japanische Lieder an

Chorteilnehmerin trifft einen Nachkommen eines ehemaligen Gefangenen
 ▲Chorteilnehmerin trifft einen Nachkommen eines ehemaligen Gefangenen


2003 konnte das zweite „Heimkehrkonzert der Neunten“ dank einer Einladung der niedersächsischen Landesregierung im Braunschweiger Dom organisiert werden.

Vor dem Konzert fand ein Austauschprogramm statt, bei dem die in jenem Jahr verstorbene Harue Takahashi und ihre Anstrengungen um die Pflege des Gedenkstein mit einer Schweigeminute gewürdigt wurden. Daran schloss sich eine Fotopräsentation mit Eindrücken aus dem damaligen Leben der gefangenen Soldaten an, die für großes Interesse bei den extra angereisten Nachkommen der Insassen sorgte. Gleichzeitig brachten diese aber Gegenstände und Materialien wie Fotografien und Programme aus dem Nachlass ihrer Väter und Großväter mit, die dem Deutschen Haus in Naruto gespendet wurden.

Beim zweiten „Heimkehrkonzert der Neunten“
 ▲Beim zweiten „Heimkehrkonzert der Neunten“


2008 fand ein drittes „Heimkehrkonzert der Neunten“ statt, das zu Ehren des 90. Jubiläums der asiatischen Erstaufführung im chinesischen Tsingtau (heute: Qingdao) mit einem Chor bestehend aus Teilnehmern aus den drei Städten Naruto, Lüneburg und Tsingtau abgehalten wurde. Neben chinesischen Volksliedern wie dem bekannten „Mo Li Hua“ wurden das japanische Lied „Sakura“ sowie Händels „Wassermusik“ am Anfang gespielt, bis sich der große Chor letztlich der „Neunten“ widmete. Die rund 1.400 anwesenden Gäste spendeten dafür tosenden Beifall.

Beim dritten „Heimkehrkonzert der Neunten“
 ▲Beim dritten „Heimkehrkonzert der Neunten“


2018 - Das Jahr des 100. Jubiläum der asiatischen Erstaufführung der Neunten

Auf diese Weise hat sich in Naruto im Laufe der Jahre eine ganz besondere Tradition mit Bezug zur Neunten Sinfonie Beethovens entwickelt, „Naruto-Daiku - Die Neunte von Naruto“ eben, die aus dem In- und Ausland jedes Jahr zahlreiche Sängerinnen und Sänger anzieht und einen Chor von mehr als 600 Mitgliedern zählt. Doch nicht nur dies trug dazu bei, dass „Naruto-Daiku“ zunehmend bekannter im ganzen Land wurde. Zum Nationalen Volkskulturfest in Tokushima in den Jahren 2007 und 2012 wurde die Neunte Sinfonie Beethovens zu einem von vier für die Region typischen Grundpfeilern erklärt. Ein bedeutsamer Schritt für die Musikkultur nicht nur in der Stadt Naruto, sondern auch der ganzen Präfektur.

Der Dezember des Jahres 2013 sah die Formation einer mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft besetzten Projektgruppe mit dem offizellen Namen „Fördergruppe zur Ausgestaltung der asiatischen Erstaufführung der Neunten als Marke“. Diese macht es sich zum Ziel, die hier in Naruto verankerten musikalischen Traditionen und Werte des Friedens, der Nächstenliebe und Menschlichkeit, die in Folge der Geschichte der Erstaufführung der „Neunten“ - quasi als Verkörperung der in dieser Sinfonie enthaltenen Ideen - im Gefangenenlager Bando in Kriegszeiten zelebriert wurden, inner- und außerhalb Japans bekannter zu machen.

2018 jährt sich die Erstaufführung in Asien zum 100. Mal. „Naruto-Daiku“, die ganz besondere „Neunte von Naruto“ soll zu dieser Gelegenheit als Symbol für dieses einzigartige Jubiläum aufgebaut werden.

Das Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens in Naruto wird von Jahr zu Jahr größer(beim 33. Konzert der Neunten Sinfonie)
 ▲Das Konzert der Neunten Sinfonie Beethovens in Naruto wird von Jahr zu Jahr größer(beim 33. Konzert der Neunten Sinfonie)

Wollen Sie die „Fördergruppe zur Ausgestaltung der asiatischen Erstaufführung der Neunten als Marke“ unterstützen?

Die Stadt Naruto hat einen Förderungsfond für die Projektgruppe der „Neunten“ ins Leben gerufen, an die Sie auch spenden können. Dieser Fond soll dabei helfen, den Geist und die Ideen von Menschlichkeit und Frieden der Neunten mit „Naruto-Daiku“ in die Welt hinauszutragen. Wir hoffen auf Ihre Unterstützung.

Homepage des Förderungsfonds der Projektgruppe (Japanisch)

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